Fragmentos

Deutschland um 17. und 18. Jahrhunderte

Fragment aus

Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Erstes Kapitel: Grundtatsachen der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, [1958] 1966, SS. 39-40.

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Deutschland um 17. und 18. Jahrhunderte
1848 März Aufstand Berlin, Ausschnitt. Quelle: Wikimedia Commons.

Anderthalb Jahrhunderte sind, unter Menschen, eine lange Zeit, und obgleich diese anderthalb Jahrhunderte ungewöhnlich friedlich waren, sah die westliche Welt um 1789 doch ganz anders aus als 1648. Von den großen Veränderungen dieser Epoche haben die wenigsten in oder durch Deutschland stattgefunden. Frankreich erhob sich zu den Höhen eines katholischen, römergleichen Absolutismus und focht um die Hegemonie über Europa. Freiheit der Wissenschaft und des Gedankens brach sich in Holland Bahn; Republikaner, Materialisten, Gottesleugner begannen von sich reden zu machen. In England verloren die Könige, die es den französischen Bourbonen hatten gleichtun wollen, das Spiel; aus mittelalterlichen Ständen wurden ein Parlament und eine Regierung durch Parteien, Kabinett und Ersten Minister. Gegen Thomas Hobbes’ Theorie vom totalen Königsstaat entwickelte John Locke die seinen vom beschränkten, liberalen Staat, vom Gesellschaftsvertrag, von der Volksvertretung. Rußland erschien in der westlichen Politik, wurde zur Macht and der Ostsee, zur europäischen Großmacht. Engländer und Franzosen kämpften um Indien und Amerika; kaum waren die Franzosen aus dem Felde geschlagen, so begannen die britischen Amerikaner, ihrem Mutterland Schwierigkeiten zu machen. Es gab die Bank von England, Papiergeld, Börsenspekulationen; die neue Macht der Finanziers, des reichen Bürgertums, der Presse, der Demagogie. Es gab die Dampfmaschine, die Spinnmaschine, die Intensivierung des Kohlenbergbaues. Es gab die Satiren von Defoe und Swift und Fielding, die Novellen und Pamphlete des großen Voltaire. Aber die Äbte der reichsunmittelbaren Abtei Salmansweiler regierten um 1750, wie sie um 1650 regiert hatten, und schickten nach wie vor ihr Kontingent von zwölf Mann zur Reichsarmee. Nichts änderte sich in der Grafschaft Laubach, außer daß etwa ein regierender Graf seinem mittelalterlichen Schloß einen Flügel im Rokoko-Stil anfügte oder ein anderer, vom Geist der Aufklärung bewegt, ein Waisenhaus stiftete. Das Reich blieb das Reich, unreformiert, unangepaßt. So kam es allmählich in den Ruf, etwas sehr Altes, ja Komisches zu sein. Und so konnte zum Schluß die deutsche Nation sich einbilden, jünger zu sein als andere Nationen. Sie war jugendlich, insofern ihr uralten, erstarrten Einrichtungen ihr und ihrer Zeit nicht mehr genügten.

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